Kategorien
Journal

Das logistische Wachstumsmodell

Ein Interview mit Lothar Krätzig-Ahlert

Im Dezember 2021 kontaktierte Lothar Krätzig-Ahlert die Kuratorinnen der Ausstellung „Nimmersatt? Gesellschaft ohne Wachstum denken“, um mit seinen Kenntnissen über das logistische Wachstumsmodell eine weitere Anregung zu geben. Das Thema der Grenzen des Wachstums, das die Ausstellung künstlerisch aufgreift, kann auch mit dem logistischen Wachstumsmodell beschrieben werden – eine Überlegung, die nachfolgend erläutert wird.

Lothar Krätzig-Ahlert, geboren 1955, hat an der RWTH Aachen sowohl ein Ingenieur- als auch ein Wirtschaftsstudium absolviert. Während des Wirtschaftsstudiums hat er sich mit Wachstums- und Entwicklungstheorien beschäftigt. Nach Abschluss des Berufslebens 2019 entwickelt er Überlegungen zu diesen Theorien weiter.

LWL-Museum für Kunst und Kultur: Lieber Herr Krätzig-Ahlert, nachdem Sie die Ausstellung „Nimmersatt? Gesellschaft ohne Wachstum“ besucht hatten, hat Sie ein Gedanke nicht mehr losgelassen. Welcher war das? Warum war es ihnen so wichtig, mit den Kuratorinnen ins Gespräch zu kommen?

Lothar Krätzig-Ahlert: Die Ausstellung „Nimmersatt?“ thematisiert die Grenzen des Wachstums aus einer sozialwissenschaftlichen Sicht. Hier war mein Gedanke, ob zur Ergänzung der Ausstellung auch eine naturwissenschaftliche Sichtweise hilfreich sein könnte. Deshalb habe ich den Kontakt zu den Kuratorinnen gesucht.

LWL-Museum für Kunst und Kultur: Warum finden Sie es im Hinblick auf die Ausstellung so wichtig über das logistische Wachstumsmodell zu sprechen? Was glauben Sie, welche Auswirkungen könnte es haben, wenn mehr Menschen von dem logistischen Wachstumsmodell erfahren?

Lothar Krätzig-Ahlert: Das logistische Wachstum ist ein Naturgesetz und in nur wenigen Fachkreisen bekannt. Gerade jetzt, während der Bekämpfung der Corona Pandemie, ist das Wissen, um die herrschenden Naturgesetze wichtig. Die Ausbreitungsrechnungen der Epidemiologie basieren auf dem logistischen Wachstum. Für das Coronavirus ist die Gesamtbevölkerung ein Grenzwert, der von dem Virus naturgesetzlich nicht überschritten werden kann. Das dahinterliegende logistische Wachstum ist allerdings nur bruchstückhaft in Form der quasilinearen und exponentiellen Wachstumsbereiche des logistischen Wachstums bekannt. Hier wäre das Wissen über das logistische Wachstum in seiner Gesamtheit für die breite Bevölkerung von Vorteil und könnte auch zur Versachlichung der Diskussionen bei der Bekämpfung der Pandemie beitragen.

LWL-Museum für Kunst und Kultur: In unserem ersten Gespräch haben Sie erzählt, dass es in der Natur kein lineares Wachstum gibt. Können Sie ein Beispiel nennen, bei dem wir von linearem Wachstum ausgehen, obwohl es keines ist?

Lothar Krätzig-Ahlert: Die Natur kennt kein lineares Wachstum. Der Mensch hingegen versucht, durch einfache Modelle die Komplexität der Natur verständlich aufzubereiten. Dazu gehören das lineare und das exponentielle Wachstumsmodell. Beide Modelle beinhalten keine Wachstumsgrenzwerte, eine Unmöglichkeit in einer energetisch-materiell begrenzten Welt. Das lineare Wachstum findet seinen Niederschlag z.B. in der Dreisatzrechnung, bei der eine gesuchte vierte Größe über drei bekannte linear errechnet wird. In dem Zusammenhang ein Zitat von Dobelli:

„Lineares Wachstum verstehen wir intuitiv, doch wir haben kein Gefühl für exponentielles (oder prozentuales) Wachstum. Warum nicht? Weil die evolutionäre Vergangenheit uns nicht darauf vorbereitet hat. Die Erfahrungen unserer Vorfahren waren größtenteils linearer Art. Wer doppelt so viel Zeit aufs Sammeln investierte, brachte die doppelte Menge Beeren ein. Wer gleich zwei Mammuts über den Abgrund jagte statt nur eines, zehrte doppelt so lange davon. Es gibt kaum ein Beispiel aus der Steinzeit, wo Menschen exponentiellem Wachstum begegnet wären. Heute ist das anders…. Nichts, was prozentual wächst, wächst ewig – auch das vergessen die meisten Politiker, Ökonomen und Journalisten. Jedes exponentielle Wachstum kommt irgendwann an seine Grenze – garantiert.“ (2)

LWL-Museum für Kunst und Kultur: Habe ich es richtig verstanden, dass das lineare Wachstum im Gegensatz zum logistischen Wachstum keine Grenzen kennt? Wie sieht das beim logistischen Wachstum aus? Wo liegen hier die Grenzwerte und viel wichtiger: Was passiert, wenn ein Grenzwert erreicht ist? Können Sie hierfür ein Beispiel aus unserem Alltag nennen?

Lothar Krätzig-Ahlert: Sowohl das lineare als auch das exponentielle Wachstum kennen keine Wachstumsgrenzwerte. Man kann mit beiden Modellen theoretisch bis in die Unendlichkeit rechnen, aber in unserer realen Welt ist das eine Unmöglichkeit. Der Begriff unendlich ist nur für die theoretische Mathematik von Interesse, z. B. beim sogenannten Grenzübergang gegen unendlich.

Nähert sich das reale Wachstum dem jeweils spezifischen Systemgrenzwert, dann wird das Wachstumsverhalten vor dem Erreichen des Grenzwertes unruhig, es fängt an zu schwingen, wobei die Ausschläge zunehmen. Man merkt regelrecht, wie sich die Natur gegen ein weiteres Wachstum wehrt. Als Ultima Ratio bremst der Wachstumsgrenzwert das weitere Anwachsen durch die Wachstumskrise aus. Es kommt naturgesetzlich zum Kipppunkt, der den Wachstumskollaps herbeiführt und der das Wachstum endgültig zum Einhalten bringt. Damit wird das Wachstumssystem auf null gesetzt, und es kann nach diesem Lerneffekt möglicherweise wieder mit einem Neustart beginnen.

Die Finanzblasen, die plötzlich platzen, sind ein bekanntes ökonomisches Phänomen für diese Wachstumskrise. Auch die amerikanische Immobilienkrise 2008, die dann durch einen „zufälligen“ Bankenkollaps zu einer weltweiten Finanzkrise mutierte, ist ein Beispiel für ein derartiges Verhalten. Die weltweit zunehmenden Extremwetterlagen infolge des menschenverursachten Klimawandels sind ein weiteres Beispiel für das logistische Wachstumsverhalten, wenn sich das Systemwachstum aus der Stabilität eines Fließgleichgewichtes heraus in Richtung zunehmender Instabilität bewegt.

LWL-Museum für Kunst und Kultur: Mich hat nach unserem Gespräch der Gedanke nicht mehr losgelassen, dass wir Menschen in all unseren Lebensbereichen nach der Logik des linearen Wachstums streben. In unserem beruflichen aber auch in unserem privaten Leben möchten wir täglich besser werden und setzen uns immer höhere Ziele. So funktioniert auch unser Wirtschaftsmodell. Glauben Sie hier steckt ein allgemeiner Denkfehler? Kann das logistische Wachstumsmodell unser Fortschrittsdenken beeinflussen?

Lothar Krätzig-Ahlert: Hier müssen wir zwischen der immateriellen Weiterentwicklung durch Innovationen und dem energetisch-materiellen Wachstum unterscheiden.

Basis für unsere energetisch-materielle Existenz auf dem Planet Erde sind die begrenzte Energieversorgung durch die Sonneneinstrahlung und die begrenzten materiellen Ressourcen der Biosphäre. Beide begrenzenden Faktoren können durch das logistische Wachstum beschrieben werden. Mehr geht in diesem Bereich nicht.

Im Gegensatz dazu steht die Innovation. Die immaterielle Weiterentwicklung im biologischen, sozialen und technischen Bereich ist aus heutiger Sicht unbegrenzt. Auf dieser Basis hat sich der Mensch im Laufe der Evolution vom Einzeller über den Menschenaffen zum homo sapiens sapiens entwickelt und der Prozess läuft unbegrenzt weiter. Dieser Entwicklungsprozess ist offen und der Fortschritt durch kein Modell beschreibbar. Dazu ein Zitat von John Stuart Mill, der sich bereits 1857 in ähnlicher Weise geäußert hat:

„Es erscheint kaum notwendig, besonders zu betonen, dass ein Zustand konstanten Kapitals und gleichbleibender Bevölkerungszahl nicht mit einem stillstehenden Zustand menschlicher Erfindergabe gleichzusetzen wäre. Es gäbe ebensoviel Spielraum für alle Arten geistiger Kultur, für moralischen und sozialen Fortschritt, genausoviel Möglichkeiten, die Lebensführung zu verbessern, und es wäre wahrscheinlicher, daß dies auch geschehen würde.“ (3)

Unser Denkfehler besteht darin, dass wir das begrenzte energetisch-materielle Wachstum mit der unbegrenzten immateriellen Weiterentwicklung durch Innovation vermischen. Wir Menschen meinen, auch unsere energetisch-materielle Basis könne unbegrenzt wachsen, das ist allerdings ein Irrtum.

Das immaterielle Streben nach Weiterentwicklung, auch nach persönlicher Weiterentwicklung, ist positiv zu bewerten. Diesen Entwicklungsprozess durchläuft jeder Mensch im Laufe seines Lebens. Der Mensch braucht allerdings im Laufe seines Lebens z. B. keinen linear anwachsenden Fuhrpark mit 1, 2, 3, 4 oder mehr Fahrzeugen. Es genügt ein Fahrzeug, das im Laufe der Zeit regelmäßig durch ein technisch weiterentwickeltes ersetzt wird. Das ist dann ein materielles Nullwachstum bei gleichzeitiger technischer Weiterentwicklung. Und vieles lässt sich, – bei genauem Hinsehen -, auch zu Fuß oder mit dem Fahrrad erledigen.

LWL-Museum für Kunst und Kultur: Vielen Dank für das Interview und die tollen Anregungen!

Nachweise

  1. Peitgen, H. O.; Richter P. H. The Beauty of Fractals, Images of Complex Dynamical Systems. Springer 1986
  2. Dobelli, Rolf. Die Kunst des klaren Denkens. 52 Denkfehler, die Sie bitte besser anderen überlassen. RM Buch und Medien Vertrieb GmbH, 2011, S. 142f
  3. Mill, John Stuart, zitiert bei Meadows, Dennis. Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. dva informativ, Stuttgart 1972, S. 157

Mehr zum logistischen Wachstumsmodell