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Verzicht und Empathie

Ein Beitrag von Phillip Ost

Gesellschaftliches Zusammenleben erfordert schließlich immer wieder Einfühlung, um einander zu verstehen, auf einander achtzugeben und letztlich eine Gesellschaft und nicht eine Masse von ichbezogenen Einzelgängern zu formen.

Bei kritischer Betrachtung der Gegenwart mit all ihren Problemen, Konflikten und scheinbar nie enden wollenden Diskussionen fällt mir immer wieder eines auf: es mangelt an Empathie. Der Duden definiert Empathie als „Bereitschaft und Fähigkeit, sich in die Einstellungen anderer Menschen einzufühlen“ und skizziert damit eine der wichtigsten menschlichen Fähigkeiten. Gesellschaftliches Zusammenleben erfordert schließlich immer wieder Einfühlung, um einander zu verstehen, auf einander achtzugeben und letztlich eine Gesellschaft und nicht eine Masse von ichbezogenen Einzelgängern zu formen. Doch gerade Egoismus und mangelndes Einfühlungsvermögen dominieren, insbesondere aus Sicht der jüngeren Generationen, den Sound der Gegenwart: berechtigte Forderungen nach klimagerechter Politik und entsprechenden politischen Weichenstellungen werden wenig bis gar nicht ernstgenommen und sind damit nur die Spitze des Eisbergs. Ganz offensichtlich mangelt es gerade Politiker*innen am Vermögen, sich in junge Menschen hineinzuversetzen, denn die verheerendsten Auswirkungen des Klimawandels werden sie wahrscheinlich nicht mehr erleben.

Viel zu selten wird versucht, die Lebenswirklichkeit derjenigen zu reflektieren, die tagtäglich für unseren Konsum produzieren oder aufgrund dessen ihr gewohntes Lebensumfeld verloren haben oder verlieren werden.

Seit der industriellen Revolution kennen die Gesellschaften und Wirtschaftssysteme des Globalen Nordens eigentlich nur eine Entwicklungsrichtung: höher, schneller, weiter. Die Wirtschaft muss wachsen, der Wohlstand zunehmen, der Konsum gesichert sein. Diese Grundsätze sind aber heute nicht mehr uneingeschränkt vertretbar: Generationen haben auf Grundlage von Ressourcenausbeutung nicht nur den klimatischen Wandel vorangetrieben, sondern auch globale Ungleichheiten gefördert. Rücksichtslos werden natürliche Ressourcen zur Befriedigung vor allem von Konsuminteressen auf Kosten des Globalen Südens abgebaut. Ökosysteme werden wirtschaftlichen Interessen geopfert, Lebensräume von Mensch und Natur zerstört. Darüber hinaus produzieren Arbeiter*innen zu Billiglöhnen die Konsumprodukte des Globalen Nordens: Jeans, T-Shirts, Spielzeug, Smartphones und eigentlich die Mehrheit unserer Kleidung und elektronischen Geräte werden unter zum Teil menschenunwürdigen Bedingungen produziert, um möglichst günstig angeboten werden zu können. Dabei würde Empathie gerade an dieser Stelle vielleicht ein Umdenken aufseiten der Konsument*innen bewirken: wie würde ich mich fühlen, wenn der Wald, in dem ich täglich mit dem Hund spazieren gehe zugunsten der Braunkohleförderung abgeholzt wird? Wie wäre es für mich, jeden Tag 14 Stunden in einer stickigen Fabrik im Akkord T-Shirts zu nähen? Viel zu selten wird versucht, die Lebenswirklichkeit derjenigen zu reflektieren, die tagtäglich für unseren Konsum produzieren oder aufgrund dessen ihr gewohntes Lebensumfeld verloren haben oder verlieren werden. Versucht man sich gemäß der Definition von Empathie einmal in diese Menschen einzufühlen, so fällt es sehr schwer, in unserem Verhalten nicht auch ein wertemäßiges Ungleichgewicht zu sehen: hier die zufriedenen Konsument*innen des Globalen Nordens, die sich über günstige Preise freuen, dort die Arbeiter*innen und Menschen des Globalen Südens, die aufgrund dessen das Nachsehen haben. Schließlich sind ihre Interessen offensichtlich weniger relevant als die unseren.

Indem wir aufeinander achtgeben, auch mal einen Schritt zurücktreten und anderen den Vortritt lassen, sorgen wir nicht nur für ein entspannteres Miteinander, sondern sind vielleicht auch lebendiges Beispiel für die Wichtigkeit von Empathie.

Letzteres gilt gleichermaßen auch für diejenigen Lebewesen, zu denen die Menschheit eine mehrheitlich von Nutzen bestimmte Beziehung entwickelt hat: Schweine, Rinder, Hühner, Bienen oder Fische sind nur einige Beispiele für Lebewesen, denen nur selten mit Empathie begegnet wird. Dabei sind auch deren Lebensräume und Fortbestand bedroht von Klimawandel und menschengemachten Umweltschäden, stellt deren Aufzucht, Schlachtung und Verzehr einen bedeutenden Faktor für das Klima und das globale biologische Gleichgewicht dar. Daher wäre auch hier mehr Einfühlungsvermögen gefragt: sollen Schweine, Rinder oder Hühner wirklich auf kleinstmöglichem Raum gehalten werden, um deren Fleisch möglichst günstig im Supermarkt anbieten zu können? Sollen die Meere weiter überfischt und die monokulturelle Landwirtschaft weiter den Bestand an Insekten reduzieren? Diese Fragen sollten, so finanziell darstellbar, unseren Konsum tierischer Produkte begleiten und eventuell auch dazu führen, Verzicht zu üben und Einfühlung auch für andere Lebewesen aufzubringen.

Dass Empathie oft jedoch bereits vor der eigenen Haustür fehlt, zeigt sich täglich ganz banal: im Straßenverkehr, an der Supermarktkasse, im ÖPNV, überall bemerke ich die Abwesenheit von Empathie, wenn alten Menschen mit Rollator kein Platz angeboten wird, andere sich vordrängeln oder rücksichtlos die Vorfahrt nehmen. Gemeinsam in einer Gesellschaft zu leben, bedeutet für mich auch immer für die anderen mitzudenken, Rücksicht zu nehmen und nicht zu jeder Zeit mein vermeintliches Recht durchzusetzen.

Empathie stellt aus meiner Sicht die Grundlage für das Praktizieren von Verzicht aus, denn ohne Empathie und das damit verbundene Einfühlen in andere Menschen und Lebewesen wird es auf breiter Basis schwierig, Akzeptanz zu erreichen.

In Anlehnung an den Titel der Ausstellung „Nimmersatt? Gesellschaft ohne Wachstum denken“ wäre es im Prozess des Nachdenkens über einen Wachstumsverzicht angebracht, auch über eine emphatischere Gesellschaft nachzudenken. Empathie stellt aus meiner Sicht die Grundlage für das Praktizieren von Verzicht aus, denn ohne Empathie und das damit verbundene Einfühlen in andere Menschen und Lebewesen wird es auf breiter Basis schwierig, Akzeptanz zu erreichen. Indem wir uns in andere Lebensumstände und -realitäten hineinversetzen und so auch emotional nachzuvollziehen versuchen, was Überkonsum und die Gier nach Wachstum ganz konkret für die Menschen des Globalen Südens bedeutet, ist es vielleicht einfacher unsere gewohnten Muster zu hinterfragen und letztendlich auch zu ändern.